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Artikel über das methodische Wahlhilfen-DesignJulian Brandt - 21.07.2013 12:29

Hier ein längerer wissenschaftlicher Artikel über das methodische Wahlhilfen-Design von Erstimme2013. Sicher für den einen oder anderen Leser ganz interessant um auch den wissenschaftlichen Anspruch unserer Webseite besser zu verstehen.

Grundsätzlich: Wie funktioniert eine Online-Wahlhilfe?
Den gängigen Online-Wahlhilfen, oder „Voting Advice Applications“ (VAA), wie sie zunehmend fachlich zusammengefasst werden (Garzia 2010: 13), liegt ein einfaches Prinzip zugrunde: Sie sollen Wähler dabei unterstützen, eine Wahlentscheidung zugunsten von Kandidaten oder Parteien zu treffen. Dabei nehmen sie (zumindest theoretisch) dem Wähler die „Arbeit“ ab relevante politische Themen zu identifizieren, die Standpunkte von Parteien oder Kandidaten zu den entsprechenden Themen zu recherchieren und das Verhältnis zum eigenen Standpunkt festzustellen. Alle VAAs arbeiten also mit Präferenzen, die der Nutzer über politische Multiple-Choice-Fragen eingibt, und vergleichen sie mit Standpunkten der Parteien oder Kandidaten (Wagner/Ruusuvirta 2012: 402).

Trotz dieser allgemein gleichen Funktionsweise ergeben sich aus der konkreten Umsetzung technische Unterschiede zwischen den VAAs. Sie betreffen Anzahl und Art der Fragen/Thesen, Anzahl und Art der Antwortmöglichkeiten, persönliche Gewichtungsmöglicheiten und schlussendlich die Berechnungsmethoden (Garzia/Marschall 2012: 207f).

Was war die Aufgabe?
Im Laufe des Projekts „Erststimme2013“ mussten wir uns vor diesem Hintergrund einer Vielzahl von methodischen Problemen und Entscheidungen stellen. Es war die Aufgabe von Gruppe 2 sich mit den grundsätzlichen methodischen Problemen zu befassen und Lösungsmöglichkeiten vozuschlagen. Auf den ersten Blick ist es nicht offensichtlich welche Möglichkeiten in diesem Bereich liegen, der jedoch entscheidend für das Funktionieren einer Wahlhilfe ist. Die methodischen Grundlagen wirken sich deutlich auf Nutzungserfahrung sowie Genauigkeit der Ergebnisse und Interpretation der Antworten aus. Mittlerweile ist bekannt, dass sich sogar unterschiedliche Formulierung oder die Reihenfolge von Fragen und Thesen auf das Resultat auswirken können, ganz zu schweigen von unterschiedlichen Berechnungsmethoden mit teilweise deutlich variierenden Ergebnissen (Garzia/Marschall 2012: 212; Gemenis 2013: 17).

Wir haben unsere Entscheidungen während des gesamten Entwicklungsprozesses deshalb auf Erkenntnisse und Erfahrungen aus der wissenschaftlichen Literatur gestützt. Damit Sie diesen Prozess nachvollziehen können, sollen in diesem Text grundlegende Herangehensweise, Überlegungen und Entscheidungen innerhalb der Gruppe dargestellt werden.

Im Plenum hatten wir uns für fünf mögliche Antwortkategorien entschieden, um dem Nutzer eine feinere Positionierung zu ermöglichen. Die Wahlhilfe sollte 20 Thesen enthalten, Frageformen wurden verworfen. Ebenso fiel im Plenum die grundsätzliche Entscheidung für eine neutrale Antwortkategorie und eine Gewichtungsmöglichkeit von einzelnen Antworten. Beide Optionen sollen Nutzern mehr Gestaltungsmöglichkeiten im Ausdruck ihrer Präferenz bieten, sind aber aus methodischer Sicht unter Umständen, wie wir noch sehen werden, nicht ganz unproblematisch. Im Folgenden soll ausgeführt werden, wie genau in Gruppe 2 mit diesen Vorgaben gearbeitet wurde.

Die neutrale Antwortkategorie
Ein Problem an der „neutralen“ Antwortkategorie ist ihre methodische Unbestimmtheit. Obwohl sie bei fast allen VAAs verwendet wird, kann sie unterschiedliche inhaltliche Bedeutungen wie „Neutral“ im Sinne von „weder noch“, aber auch Bedeutungen wie „keine Meinung“ oder „bin mir unsicher“ annehmen (Baka/Faggou/Triga 2012: 227; Gemenis 2013: 10). So kann diese Kategorie sowohl durch die Fragesteller, als auch die Nutzer unterschiedlich verstanden und genutzt werden. In der Folge kann es zu verfälschten Ergebnissen kommen. Um dies zu vermeiden, haben wir zusätzlich die Möglichkeit eingefügt Thesen zu überspringen und unterscheiden beide Optionen deutlich voneinander. „Neutral“ fließt als inhaltliche Position in die Berechnung mit ein, während „These überspringen“ bedeutet, dass sich der Nutzer gar nicht positioniert.

Die Gewichtung
Entsprechend der „Salience-Theorie“ messen Wähler und politische Akteure bestimmten Themen besondere Bedeutung bei, wodurch diese Themen wichtiger für eine persönliche Wahlentscheidung werden (Wagner/Ruusuvirta 2012: 408). Gewichtungsmöglichkeiten werden daher seit der ersten VAA in den 90ern (aber nicht bei allen VAAs) berücksichtigt (Garzia 2010: 27). Weil wir die Ansicht teilen, dass Wahlentscheidungen auch durch bestimmte Themenpräferenzen beeinflusst sind, ist es auch bei „Erstimme2013“ möglich, einzelne Thesen zu gewichten. Die aus ihnen resultierenden Werte zählen dementsprechend doppelt.

Die Entscheidung für ein Berechnungsmodell: Proximity-, Directional-, und Salience-Model
Hinter jeder VAA steckt eine spezifische Logik. Gemessen wird inhaltliche Übereinstimmung zwischen dem Nutzer und den zur Wahl stehenden Parteien und Kandidaten. Es gibt aber unterschiedliche Logiken, nach denen Übereinstimmung beurteilt werden kann. Diese Frage, welche Logik unserer VAA zugrunde liegen soll, war eine Kernfrage der Gruppe 2.

Die meisten VAAs, unter anderem der belgische „Kieskompas“, der finnische „YLE VAA“ und der deutsche „Wahl-o-mat“, basieren auf dem „Proximity-Model“ (von engl.: proximity ? Nähe).
Die Vorstellung geht auf das „Spatial Model“ von Anthony Downs aus den späten 50er Jahren zurück, wonach jede politische Position auf einem Links-Rechts-Kontinuum liegend dargestellt werden kann und Wahlentscheidungen aufgrund von Nähe oder Distanz der eigenen inhaltlichen Positionen zu Partei- oder Kandidatenpositionen getroffen werden (Garzia 2010: 17). Im Proximity-Model werden daher Positionen in Form von Zustimmungswerten in einer Reihe angeordnet und die Distanz zwischen der Position des Wählers und der von Parteien und Kandidaten gemessen. Desto geringer die Distanz ist, desto größer die Übereinstimmung.

Eine andere Logik verfolgt das „Directional-Model“ (von engl.: direction ? Richtung). Dabei wird davon ausgegangen, dass für Wähler weniger Distanz- und Näheverhältnisse zur eigenen Position wichtig sind, als vielmehr die grundlegende Richtung. Dies kann darin begründet sein, dass Wähler zwar eine diffuse Präferenz in eine bestimmte Richtung haben, allerdings nicht perfekt informiert sind oder keinen konkreten eigenen Standpunkt haben und daher nicht genau zwischen detaillierten Positionen differenzieren können (Wagner/Ruusuvirta 2012: 408). Die einfachste Umsetzung dieser Logik wäre die Entscheidung zwischen zwei Antwortmöglichkeiten (und gleichzeitig -richtungen), also „Zustimmung“ und „Ablehnung“. So aufgebaut ist zum Beispiel der niederländische „StemWijzer“ (Wagner/Ruusuvirta 2012: 406).

Ganz anders funktioniert das „Salience-Model“ (von engl.: salience ? Hervorstechen). Während Proximity- und Directional-Model auf Grundlage des Positionsabgleichs eines Nutzers funktionieren, fokussiert das Salience-Model das Interesse des Wählers an bestimmten Themen (Thesen). Es geht davon aus, dass Kandidaten und Parteien Themen unterschiedlich bewerten und Übereinstimmung mit dem Wähler darüber gemessen werden kann, ob sie Themen für ähnlich wichtig befinden. Folglich könnte ein Wähler eher eine Partei wählen, die die ihm wichtigen Themen anspricht und behandelt (Wagner/Ruusuvirta 2012: 408).

Das Salience-Model empfanden wir als interessanten Ansatz, allerdings auch als ungeeignet, um konkrete Wahlempfehlungen zu erstellen. Tatsächlich gibt es keine VAA, die in erster Linie nach diesem Modell funktioniert, sondern nur VAAs mit eingebauten Gewichtungselementen (Wagner/Ruusuvirta 2012: 409).

Am Anfang schien uns das Proximity-Model als Grundlage für Erststimme2013 am besten geeignet. Dafür sprach, dass der überwiegende Teil von bereits existierenden VAAs mit Nähe- und Distanzverhältnissen arbeitet und das Directional-Model vernachlässigt (Garzia 2010: 21), als auch, dass die Methode mit einer fünfstufigen Skala kompatibel und die Berechnung relativ einfach erschien. Im Proximity Model ist die „Nähe“ zwischen zwei Positionen entscheidend. Stellt man sich das Prinzip bildlich vor, so liegen die Antworten auf unterschiedlichen Punkten einer eindimensionalen Achse. Nach unserem Design lägen also die fünf Antwortkategorien (Stimme zu, Stimme etwas zu, Neutral, Stimme eher nicht zu, Stimme nicht zu) mit dem Abstand 1 auf dieser Achse. Die Berechnung erfolgt dann folgendermaßen: Stimmen die Position von Nutzer und Kandidat absolut überein, werden für die These und den Kandidaten vier Punkte berechnet (höchster „Payoff“). Mit jeder weiter distanzierten Antwortkategorie verringert sich der Payoff um einen Punkt.

Als wir anfingen das Design nach dem Proximity-Model praktisch auszugestalten, stießen wir schnell auf theoretische und technische Probleme, die sich aus dem Zusammenspiel der fünfstufigen Likert-Skala, der neutralen Antwortkategorie und der Gewichtungsoption ergaben:

1. Die Punktevergabe war insgesamt sehr hoch. Bei Modellrechnungen konnten wir feststellen, dass eine Differenzierung zwischen Kandidaten durch knappe Ergebnisse schwierig werden könnte.

2. Die neutrale Antwortkategorie: Zuerst einmal sahen wir die Gefahr, dass sich Kandidaten aus strategischen Gründen oft in der Mitte positionieren würden, um Zustimmung von beiden Seiten zu bekommen, da nach diesem Design in der Mitte die höchste Wahrscheinlichkeit liegt eine Übereinstimmung mit dem Nutzer zu erzielen (oder: der „Payoff“ dieser Kategorie ist am höchsten). Dass diese Befürchtung nicht unbegründet ist, zeigt sich am Beispiel der finnischen VAA, wo genau dies eingetroffen ist (Wagner/Ruusuvirta 2012: 406).

3. Gewichtung: Wenn nur die Distanzen der Positionen entscheidend sind, dann ergibt bei der fünfstufigen Skala und der Konstellation eines eher zustimmenden Nutzers und eines eher ablehnenden Kandidaten immer noch ein Payoff von zwei Punkten, obwohl beide inhaltlich eher Gegenteiliges aussagen. Das mag man noch hinnehmen, absurd wird es aber unter Berücksichtigung der Gewichtungsoption: In dem Fall ergäbe diese Konstellation gewichtet einen Payoff von vier Punkten, also genauso viel wie bei ungewichteter, aber absoluter Übereinstimmung. Das lässt sich inhaltlich überhaupt nicht mehr erklären und führt im Ergebnis zu großen Verfälschungen.

Weil wir aber beide Elemente behalten wollten, verwarfen wir das Proximity-Model und arbeiteten an einem methodischen Design im Sinne des Directional-Models. Dieses sieht vor, dass Antwortkategorien gleicher Richtung belohnt werden. Es trennt damit scharf zwischen Einstellungen. Nach der Übertragung auf „Erststimme2013“ würde der Payoff grundsätzlich so berechnet: Bei absoluter Übereinstimmung der Positionen werden für die Thesen und den Kandidaten drei Punkte berechnet (wir haben die Punktevergabe im Vergleich zum ersten Entwurf etwas abgesenkt). Für eine abweichende Position, die aber immer noch auf der gleichen Richtung liegt (Beispiel: Nutzer wählt „Stimme zu“, Position des Kandidaten liegt bei „Stimme eher zu“) werden noch zwei Punkte berechnet. Für die Konstellation von Positionen unterschiedlicher Richtung gibt es keine Punkte.

Da im Directional-Model nur die gleiche Antwortrichtung belohnt wird, tritt auch das Problem der absurden Gewichtungsergebnisse nicht auf. Probleme bereitete uns nur nach wie vor die neutrale Antwortkategorie. Im Raum stand die Frage, wie sie im Directional-Model eigentlich zu verstehen ist und wie sie folglich in die Berechnung einfließt. Drei Alternativen der Berechnung waren möglich, von denen wir zwei verwarfen, weil sie das Direction-Model aufweichten und somit methodische Probleme bereiteten. Wir haben uns schlussendlich dafür entschieden, die neutrale Antwortkategorie strikt als eigene Richtung im Modell aufzufassen. Die Berechnung erfolgt nach der oben beschriebenen grundsätzlichen Directional-Logik und die neutrale Antwortkategorie erzielt nur bei absoluter Übereinstimmung einen Payoff. Ein wichtiger Aspekt liegt darin, dass mit dieser Variante die Antwortkategorie „Neutral“ insgesamt weniger Payoffs erzielt, somit weniger in das Modell einfließt, was damit klare Positionierungen bevorzugt. Gleichzeitig werden aber Konstellationen nicht abgestraft, bei denen sich beide, Kandidat sowie Nutzer, wegen inhaltlicher Dilemmata nicht klar positionieren können.

Somit gibt es in „Erststimme2013“ eine Art Mischmodell: Die grundlegende Logik folgt dem Directional-Model. Übereinstimmung von Positionen gleicher Richtung werden belohnt. Gleichzeitig gibt es ein Element des Proximity-Models innerhalb der Richtungen in Form abgestufter Antwortkategorien. Und schließlich berücksichtigen wir wie viele andere VAAs mit der möglichen persönlichen Gewichtung von Thesen die Salience-Theorie. Wir hoffen mit diesem methodischen Fundament den Nutzern von „Erststimme2013“ eine möglichst genaue Wahlempfehlung abgeben zu können.


Literatur:

Baka, Aphrodite/Faggou, Lia/Triga, Vasiliki (2012): ‚Neither agree, nor disagree‘: a critical analysis of the middle answers category in Voting Advice Applications. In: Int. J. Electronic
Governance, 5 (3), 244-263.

Garzia, Diego (2010): The Effects of VAAs on Users‘ Voting Behaviour: An Overview.
In: Cedroni, Lorella/Garzia, Diego (Hrsg.), Voting Advice Applications in Europe.
Napoli: Scriptaweb, 13-34.

Garzia, Diego/Marschall, Stefan (2012): Voting Advice Applications under review: the
state of research. In: Int. J. Electronic Governance, 5(3), 203-222.

Gemenis, Kostas (2012): Estimating parties' policy positions through voting advice applications: some methodological considerations. In: Acta Politica, doi: 10.1057/ap.2012.36.

Wagner, Markus/Ruusuvirta, Outi (2012): Matching voters to parties: Voting advice
applications and models of party choice. In: Acta Politica, 47 (4), 400-422.